Erdogans Begeisterung für Europa

Wir schreiben das Jahr 2001. In der Türkei gibt es massive Spannungen zwischen Traditionalisten und „Erneuerern“ der islamisch orientierten Politik. Letztere gründen schließlich die „Adalet ve Kalkinma Partisi“, ins Deutsche übersetzt bedeutet dies „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (i.S.v. Fortschritt)“. Außerhalb der Türkei wird aber statt des für Nicht-Türken schwer aussprechbaren Parteinamens fast ausschließlich die Abkürzung AKP verwendet.

Schon kurz nach der Parteigründung lassen die Führungskräfte der Partei – allen voran der spätere türkische Ministerpräsident Erdogan keine Gelegenheit aus, ihre Begeisterung für Europa kundzutun. Eine Botschaft, die in Europa von vielen Politikern mit Freude aufgenommen – und schließlich 2005 mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen honoriert – wird.

Vor wenigen Wochen ist unter dem Titel „Erdogan – ein Meister der Täuschung“ die erste deutschsprachige Biografie des türkischen Ministerpräsidenten erschienen. Der Titel des Buches lässt erwarten, dass der Leser hier mit einer kritischen Darstellung der Person Recep Tayyip Erdogan rechnen muss. Auf rund 300 Seiten analysiert Jürgen P. Fuß, der rund sechs Jahre in der Türkei als Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Wochenzeitung die politischen Entwicklungen hautnah mitverfolgen konnte, Strategie und Taktik des türkischen „Machtpolitikers“ (so Fuß).

Ohne Polemik aber mit deutlicher Distanz zu vielen aktuellen Medienberichten zieht der Autor aus seinen Beobachtungen eigene Schlüsse. Am Ende ergibt sich ein Bild, das große Zweifel daran aufkommen lässt, ob Erdogan und „seine“ AKP jemals eine Türkei schaffen wollten, die ein integraler Teil Europas ist.
All denen, die sich ein realistisches Bild über die Entwicklungen in der Türkei seit 2003 machen wollen und dabei auch bereit sind, viele der gängigen Klischees über Bord zu werfen , ist dieses Buch als Ergänzung zu den regelmäßigen Berichten in der deutschsprachigen Presse zu empfehlen.

Erdogan CoverErdogan – ein Meister der Täuschung | Was Europa von der Türkei wirklich zu erwarten hat.
ISBN 978-3937820-16-3
296 Seiten, gebunden, Hardcover mit 37 schwarz/weiß Abbildungen
sowie separater Bildteil mit 16 Fotos.
Preis: 19,80 Euro

Leseprobe:

Leseprobe Erdogan- ein Meister der Täuschung:

Vorwort

Seit 2002 vollziehen sich in der Türkei politische und gesellschaftliche Veränderungen, die von weniger als der Hälfte der türkischen Bevölkerung gewünscht werden. Das türkische Wahlrecht hat der AKP-Regierung im Parlament eine Übermacht an Sitzen beschert, die nicht den Wählerwillen repräsentiert. Dabei ist die neue Regierung keineswegs so modern und europäisch, wie sie sich unablässig präsentiert. In Wahrheit sind Erdogan und seine AKP nicht weniger konservativ und nationalistisch, als die bisherigen Regierungen.

Was sich mit der AKP verändert hat, ist eine Umschichtung von Einfluss und Vermögen – weg von den Kemalisten, hin zu einer neuen Elite, die meist aus Anatolien stammt. Damit einher geht ein immer stärkerer Einfluss der islamischen Religion, der alle Bereiche der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur erfassen will. Damit entspricht die Türkei auch mit den „neuen“ politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen nicht europäischen Normen.

Knapp sechs Jahre haben meine Frau und ich Seite an Seite mit türkischen Bürgern in der Türkei gelebt. Bei meiner Arbeit als Herausgeber und Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Wochenzeitung „Aktuelle Türkei Rundschau“ (ATR) in der Türkei habe ich vielfältige, zum Teil auch widersprüchliche Eindrücke und Informationen sammeln können.

Mit „Erdogan – ein Meister der Täuschung“ lege ich eine umfassende Biografie und erste Analyse des Politikers vor, der seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im März 2003 immer mehr die Entwicklungen in der Türkei nach seinen Vorstellungen bestimmt. Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident
und Parteivorsitzender der AKP dominiert immer mehr nicht nur die Politik, sondern auch Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung.

Doch mit diesem Buch blicke ich nicht nur zurück, sondern wage auch eine Prognose zu den Entwicklungen der Türkei bis zum Jahr 2023, das Jahr, in dem die Türkische Republik einhundert Jahre besteht. Damit verbunden will ich die Frage beantworten, was Europa in den nächsten Jahren von der Türkei wirklich zu erwarten hat.

Zweifellos ist Recep Tayyip Erdogan rhetorisch begabt und kann große Teile der türkischen Bevölkerung durch sein Charisma faszinieren – aber auch manipulieren. Doch Erdogan ist ein Meister der Taqiyya – der Kunst der Täuschung. Viele – zu viele – Zusagen, die er bis heute gegenüber der Europäischen Union gemacht hat und immer wieder macht, sind Worte, die nicht die wahren Absichten dieses machtbewussten Politikers widerspiegeln.

Die nüchterne Bilanz zu Erdogans Regierungszeit sieht weniger brillant aus, als die Wirklichkeit. Der wirtschaftliche Aufschwung hat nur einen kleinen Teil der türkischen Bevölkerung erreicht und dabei zu massiven Verschiebungen im sozialen Gleichgewicht geführt. Offizielle Zahlen zur Arbeitslosigkeit täuschen über die raue Wirklichkeit hinweg. Die türkische Marktwirtschaft entspricht nur in Ansätzen europäischen Vorstellungen. Wettbewerb wird eher klein geschrieben und die Rechte der Verbraucher und Arbeitnehmer sind nur rudimentär entwickelt. Arbeitssicherheit ist in der Praxis fast überall ein Fremdwort.

Die türkische Gesetzgebung wurde offiziell in Teilen reformiert. Doch in Wirklichkeit hat sie den Bürgern kaum bessere Rechte verschafft, sondern in erster Linie den Einfluss der AKP verstärkt. Viele Gesetze sind zudem so unscharf formuliert, dass sie von den Richtern nahezu beliebig interpretiert werden können. Die Unabhängigkeit der Justiz ist nicht größer als in früheren Jahrzehnten, verändert haben sich nur die Akteure, die auf die Justiz Einfluss nehmen. So kann in bestimmten Fällen ein Ministerium darüber entscheiden, ob ein Verfahren eröffnet werden darf oder nicht.

Das türkische Militär hat in den letzten Jahren deutlich an Einfluss verloren. Aber ist die Demokratie dadurch nachhaltig gestärkt worden? Immer noch werden politisch unbequeme Parteien durch Gesetze und das türkische Wahlrecht behindert oder eliminiert und unerwünschte Politiker mit Politikverboten belegt. Das Demonstrationsrecht – ein Beleg für existierende Meinungsfreiheit – ist bis auf den heutigen Tag in der Praxis auf ein Minimum reduziert. Die Pressefreiheit wurde in den letzten Jahren nicht gestärkt, sondern deutlich geschwächt. Gleichzeitig hat sich Erdogan eine Hausmacht aufgebaut, an der so gut wie niemand mehr vorbeikommt.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich mir mit diesem Buch ein sehr anspruchsvolles Ziel gesetzt habe und gehe davon aus, dass „Erdogan – ein Meister der Täuschung“ sehr kontroverse Reaktionen auslösen wird. Denn viele Überlegungen und Schlussfolgerungen, die Sie in diesem Buch finden werden, stimmen nicht mit dem überein, was der so genannten herrschenden Meinung entspricht. Aufgrund meiner sechsjährigen Erfahrungen in der Türkei weiß ich dass ich mit Anfeindungen und Beschimpfungen rechnen muss, möglicherweise sogar persönlichen Bedrohungen ausgesetzt sein werde. Doch die von mir angesprochenen Themen sind zu ernst, als dass ich dazu schweigen will.

In einer Pressemeldung zur 222. und damit letzten Ausgabe der „Aktuellen Türkei Rundschau“ hieß es: «Die Entwicklungen in der Türkei in den letzten Jahren und ganz besonders in den letzten Monaten haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass viele türkische Bürger, eine nicht geringe Zahl türkischer Unternehmen und in besonders hohem Maße türkische Behörden und die Regierung Meinungs- und Pressefreiheit eher als ein europäisches Übel mit destruktiver Wirkung ansehen, als ein wesentliches Element eines demokratischen Staates. Unter diesen Bedingungen konnten wir nicht länger in dem Land leben, über das wir berichtet haben und auch in Zukunft berichten wollen.»

Mit „Erdogan – ein Meister der Täuschung“ setze ich die Arbeit der „Aktuellen Türkei Rundschau“ nach einer längeren Pause fort. Diese Pause war notwendig, um all die Eindrücke, die ich zusammen mit meiner Frau gewonnen habe, zu ordnen, zu bewerten und meine Ergebnisse auf Plausibilität zu prüfen.

Ich hoffe, dass ich durch mein Buch die Menschen zum Nachdenken anregen kann die sich zu sehr von multikulturellem Gedankengut und einer weltoffenen Gesellschaft leiten lassen. Denn zu große Toleranz kann die eigene Existenz zerstören, wenn sie nicht von kritischer Wachsamkeit begleitet wird. Deshalb
müssen wir Erdogans Reden Wort für Wort mit der türkischen Wirklichkeit vergleichen und dann unser Urteil fällen.

Noch ist es nicht zu spät, dass sich Europa vor dem Verlust seiner über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Erfolge sowie geistigen Freiheiten schützen kann. Wir Europäer brauchen im zweiten Jahrtausend nach Christus keine neue politische Ordnung und keine Staatsreligion, die uns zurückwerfen würden in die Zeit vor der Französischen Revolution.

Solange Erdogan an der Macht ist, kann die Türkei nicht Mitglied der Europäischen Union werden. Diese Aussage anhand von Fakten zu belegen, ist ein wichtiges Ziel dieses Buches. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass „Erdogan – ein Meister der Täuschung“ nicht den Menschen Argumente liefert, die gegen Überfremdung und Rassismus sind. Denn europäisches Selbstbewusstsein ist die Grundlage dafür, dass sich Staaten unterschiedlichster Art sich zu einer Gemeinschaft zusammengefunden haben. Zu unserem gemeinsamen Nutzen – wie wir Europäer nahezu täglich erleben können. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen anregende Stunden beim Lesen von „Erdogan – ein Meister der Täuschung“.

Noch ein Wort zur Schreibweise der türkischen Wörter. Viele Wörter enthalten Buchstaben mit Akzenten, um eine bestimmte Aussprache anzuzeigen. Da das Schreiben dieser Akzente auf Computern mit deutscher Tastatur sehr zeitaufwändig ist, habe ich darauf verzichtet und den Text in dieser Fassung auch dem Verlag zur Verfügung gestellt. Dafür bitte ich um Verständnis.

Jürgen P. Fuß